| Veranstaltung: | LDK-Wolfsburg-2025 |
|---|---|
| Tagesordnungspunkt: | 8. Weitere Anträge |
| Antragsteller*in: | LAG Gesundheit und Pflege (dort beschlossen am: 25.10.2025) |
| Status: | Eingereicht |
| Eingereicht: | 26.10.2025, 23:44 |
WA29: Positionspapier „Psychiatrie“
Antragstext
Eine bessere psychiatrische und psychotherapeutische Versorgung in Niedersachsen
ist möglich. Für diese möchten wir einen Grundstein legen und auch zukünftig und
fortwährend an einer besseren Versorgung arbeiten.
Hierzu wird das untenstehende Positionspapier beschlossen und dient als
Arbeitsgrundlage für uns Grüne in Niedersachsen.
Folgende Ziele leiten wir daraus ab und beschließen diese ebenfalls.
1. Psychische Gesundheit als gesamtgesellschaftliche Aufgabe sichtbar machen und
umfassend fördern.
2. Psychische Gesundheit nachhaltig stärken. Durch Prävention, wohnortnahe
Hilfen, bessere ambulante Strukturen und Einbindung von Angehörigen und Peers.
3. Psychische Erkrankungen entstigmatisieren. Keine zentrale Erfassung von
Erkrankten, Einbindung von Sicherheitsbehörden nur in Einzelfällen.
4. Evidenzbasierte Politik statt Kriminalisierung. Risikofaktoren erkennen,
Unterstützung individuell adressieren, Schaden minimieren.
5. Zwangsmaßnahmen auf das Notwendigste beschränken, rechtlich stärker
kontrollieren und durch Nachsorgegespräche begleiten.
6. Berufsgruppen von der Ausbildung bis zur beruflichen Tätigkeit wertschätzen,
stärken und besser finanzieren.
Begründung
Gesellschaftliche Situation
Deutschlandweit erfüllen rund 28 % der Erwachsenen im Zeitraum eines Jahres die Kriterien einer psychischen Erkrankung (DGPPN, Basisdaten Psychische Erkrankungen, Stand Febr. 2025). Die Prävalenz psychischer Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen liegt bei ca. 20 % (KiGGS-Studie). Am häufigsten treten Angststörungen (hauptsächlich spez. Phobien), Depressionen und Störungen durch Alkohol- oder Medikamentengebrauch (hier Erwachsenenalter) auf.
Psychische Erkrankungen führen häufig zu sozialem und wirtschaftlichem Leid für die Betroffenen selbst, aber auch bei ihren Freund*innen und Familien sowie in Schule und Beruf.
Multimodale Therapiekonzepte
Prävention und frühzeitiges Erkennen von Potenzialen psychischer Erkrankungen hängen für uns eng mit der Bekämpfung von Risikofaktoren wie Einsamkeit oder gesellschaftlicher Isolation zusammen. Durch deren Bekämpfung wollen wir die individuelle psychische Resilienz stärken.
Regionale Behandlungskonzepte mit aufsuchender Hilfe im direkten Umfeld (z.B. Home Treatment oder Modellprojekte nach §64b) sollen die Menschen im Alltag soweit unterstützen und verstetigt werden. Eskalierende Krisensituationen, in denen Zwang angewendet werden muss, sollen vermieden werden.
Insbesondere die präventive Vor- und Nachsorge sind für uns entscheidend. Wir wollen deswegen die Angehörigen stärken und betroffene Familienangehörige entlasten. Kinder und Jugendliche psychisch erkrankter Eltern sind in den Fokus zu nehmen, sie tragen ein hohes Risiko später selber zu erkranken.
Die Versorgungslage von Kindern und Jugendlichen muss sich deutlich verbessern, um einer Chronifizierung im Erwachsenenalter vorzubeugen. Betroffene Kinder und Jugendliche sollen deshalb innerhalb von drei Monaten, gerade auch in den ländlichen Räumen, einen Therapieplatz erhalten.
Ambulante Psychiatrische Pflege und Soziotherapie sind wichtige Bausteine sozialpsychiatrischer Versorgung, auch als Alternative zur stationären Versorgung. Insbesondere die Ambulante Soziotherapie braucht Vergütungssteigerungen und dadurch eine Steigerung der Attraktivität.
Weiter setzen wir allgemein auf sozialarbeiterische Maßnahmen und die Gemeinwesenarbeit, denn das Schaffen von Begegnungsräumen im Quartier, Dorf oder in der Nachbarschaft sowie entsprechende Angebote sind von zentraler Bedeutung. In den Kommunen benötigen wir gut erreichbare und niedrigschwellige Angebote der allgemeinen Sozialberatung. Ebenso wichtig sind Quartierszentren mit hauptamtlicher Betreuung, die den Menschen konsumfreie Orte der Zusammenkunft bieten. Dort finden sie nicht nur Raum für Begegnung, sondern auch bei Bedarf eine verlässliche Anlaufstelle, die erste Hilfen und Verweisberatungen ermöglicht.
Wir wollen Psychiatriekoordinator*innen für jeden Landkreis als Motoren der Gemeindepsychiatrischen Verbünde im NPsychKG implementieren.
Die Peer-Beratung / EX-IN nimmt in der psychiatrischen Behandlung einen sehr wichtigen Stellenwert ein. Wir wollen uns für eine Stärkung dieser Ausbildung und den Einsatz der Peers in der Versorgung einsetzen.
Sprachmittlung
Wir erkennen die Herausforderungen im Bereich der psychiatrischen Medizin an und machen uns stark für die Berücksichtigung und Vergütung individueller Begebenheiten beispielsweise sprachlicher Hürden. Zu psychiatrischen und psychotherapeutischen Therapien sollen auch Menschen mit Fluchterfahrung als Patient:innen einen regulären Zugang bekommen. Betroffene haben für uns insbesondere in Krisensituationen unverzüglich Anspruch auf eine*n Sprachmittler*in.
Entstigmatisierung und Datenschutz
Wir Grüne setzen uns für eine Entstigmatisierung von Menschen mit psychischen Erkrankungen ein. Wir wollen die Forschung stärken, individualisierte psychiatrische Behandlungsangebote intensivieren, Teilhabe fördern, die (Kinder- & Jugendlichen) Sozialpsychiatrischen Dienste ausbauen und forensisch-psychiatrische Fachstellen bei den Polizeibehörden (nach dem Schweizer Modell des Kantons Zürich) aufbauen. Wir lehnen entschieden eine zentrale Erfassung aller Menschen mit einer psychischen Diagnose ab, da dies keine Gewalttaten verhindern würde.
Wir werden uns auch in Zukunft intensiv mit dem Thema Datenschutz in der Psychiatrie auseinandersetzen und sehen eine deutliche Ambivalenz in der Praxis. Der Schutz personenbezogener Daten ist für alle Patient:innen essenziell und die Grundlage für ein professionelles Arbeiten. In ganz besonderen Einzelfällen kann ein Datenaustausch zwischen den Psychiatrien, den Sozialpsychiatrischen Diensten und den Sicherheitsbehörden sinnvoll sein, um Hilfeleistungen passender zu adressieren.
Beim Austausch von Daten zwischen Behörden ist es entscheidend, den Datenschutz der Patient:innen strikt zu wahren und gleichzeitig die erforderliche Transparenz für eine effektive Zusammenarbeit sicherzustellen. Die betroffenen Patient:innen sollten darüber entsprechend informiert werden.
Gewalttaten
Wir Grüne in Niedersachsen stehen für eine evidenzbasierte Medizin und wissenschaftlich fundiertes Expert*innenwissen. Auf dieser Grundlage treffen wir politische Entscheidungen und stellen uns deshalb gegen jegliche Maßnahmen, die psychisch Erkrankte unnötig kriminalisieren.
Die aktuellen Daten zeigen, dass die allermeisten Gewalttaten nicht auf eine psychische Erkrankung zurückzuführen sind und die weit überwiegende Mehrheit der mehr als 18 Millionen Menschen mit psychischen Erkrankungen in Deutschland nicht gewalttätig sind. Manche Erkrankungen wie Psychosen oder Suchterkrankungen können das Risiko für Gewalt erhöhen – vor allem, wenn Betroffene keine Behandlung erhalten. Unser Ziel ist es, Risikofaktoren möglichst präventiv, therapeutisch und individuell zu adressieren und zeitnah passgenaue Unterstützung und Hilfestellung anzubieten, um Schaden zu minimieren.
Zwangsmaßnahmen
Zudem setzen wir uns dafür ein, dass neben den (Kinder- und Jugendlichen-)Psychiater:innen auch die Psychologischen Psychotherapeut:innen und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut:innen Beschlüsse zur Zwangsunterbringung verfassen dürfen.
Wir Grünen wollen Zwang in der Erwachsenenpsychiatrie (nach NPsychKG) vermeiden, da dieser wiederum selbst traumatisierend sein kann. Ärztliche Zwangsmaßnahmen (zum Beispiel auch kurzfristige Fixierung, Isolierung, Zwangsmedikation) stehen für uns grundsätzlich unter Richter*innenvorbehalt. Das Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 II 2 GG bezeichnet die Freiheit eines Menschen als „unverletzlich“, in das nur aus wichtigen Gründen eingegriffen werden darf. Eine fehlende Einsichtsfähigkeit lässt diesen Schutz nicht entfallen - weder beim psychisch Kranken, noch bei nicht voll Geschäftsfähigen. Wir wollen unsere Richter*innen an den zuständigen Gerichten auf diesem Gebiet fortbilden und ein entsprechendes Angebot geben.
Für die Nachsorge ist es für uns wichtig, dass nach Zwangsmaßnahmen mit den Betroffenen eine Nachbesprechung und Einordnung stattfindet. Dieses soll als Angebot an die Betroffenen formuliert werden.
Ausbildung und Berufsgruppen stärken
Alle pflegerischen, sozialen, medizinischen und (psycho-)therapeutischen Berufsgruppen inklusive derer, die sich in Ausbildung befinden, leisten einen enormen Beitrag bei der ambulanten und stationären Versorgung von psychisch erkrankten Menschen. Wir setzen uns für die Stärkung dieser Berufsgruppen von der Ausbildung bis zur beruflichen Tätigkeit ein. Bundesweit gilt es, die Finanzierung der Weiterbildung zu sichern und die Weiterbildungsplätze in Kliniken auszubauen; insbesondere für psychologische Psychotherapeut:innen und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut:innen.
Ihnen und den Angehörigen sowie Betroffenengruppen gilt der größte Dank in der Sicherstellung der Versorgung.